Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die 2008 von Österreich ratifiziert wurde, schreibt das Recht auf inklusive Bildung fest, um Chancengleichheit für alle zu gewährleisten. Für gehörlose und schwerhörige Menschen bedeutet das die Verankerung von Gebärdensprache(n) im Bildungswesen und die gezielte Förderung und Berücksichtigung ihrer Kommunikationsbedürfnisse.
Vom ersten Auftrag an die Expert:innen zum Entwurf eines umfassenden Lehrplans für die Österreichische Gebärdensprache bis zur Vorlage eines beschlussreifen Entwurfs eines Lehrplans, die seit 2024 feststehen, hat es sieben Jahre gedauert: Mit den beschlussreifen Entwürfen konnten wir somit heuer einen ersten Etappensieg erwirken. Die beschlussreifen Entwürfe stehen der Öffentlichkeit bis zum 4. Juli zur Begutachtung offen, danach können sie vom Bildungsministerium verordnet werden und können somit offiziell in Kraft treten. Hier erklären wir euch den derzeitigen Stand der ÖGS-Lehrpläne.
1. Wie sind die ÖGS-Lehrpläne aufgebaut?
Insgesamt stehen 2 beschlussreife Entwürfe zur Begutachtung offen:
• Für Sonderschulen gibt es einen Lehrplanzusatz im Förderbereich Hören und Kommunikation. Der Zusatz kann für die 1.-8. Schulstufe an allen Schulen zum Einsatz kommen. Voraussetzung dafür ist die Anmeldung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich Hören/Kommunikation.
• Für die Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) gibt es für die Sekundarstufe II (Oberstufe) einen kompetenzorientierten ÖGS-Lehrplan. Dieser richtet sich sowohl an gehörlose und schwerhörige Schüler:innen als auch an hörende Schüler:innen. Durch die Differenzierung in ÖGS I und ÖGS II können die Voraussetzungen aller Schüler und Schülerinnen berücksichtigt werden.
2. Lehrplanzusatz im Förderbereich Hören und Kommunikation – was bedeutet das?
Es handelt sich dabei um einen Zusatz zum Lehrplan der Sonderschule, der je nach Bedarf für die 1.-8. Schulstufe an allen Schulen Anwendung finden kann. Der Lehrplanzusatz richtet sich an gehörlose und schwerhörige Kinder und fördert diese im Bereich Hören/Kommunikation. Einzelne Förderschwerpunkte sollen auch CODA-Schüler:innen (Children of Deaf Adults) ermöglicht werden. Voraussetzung dafür ist die Anmeldung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich Hören/Kommunikation. Der Lehrplanzusatz wird von folgenden Leitprinzipien getragen:
• Schulung der Sinne und der sensorischen Integration verschiedener Sinnesreize
• Anwendung von Hörhilfen und technischen Hilfsmitteln
• Unterstützung der (mehrsprachigen) Identitätsentwicklung durch Förderung der Gebärdensprache und Auseinandersetzung mit der Schwerhörigen-/Gehörlosencommunity
• Förderung von Kommunikation und Interaktion
• Förderung von emotional-sozialen Kompetenzen, insbesondere der Fähigkeiten zur Theory of Mind
• Vermittlung von kompensatorischen (Arbeits-)Techniken
• Zusammenarbeit und Austausch mit fachspezifisch ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen
• Überwindung bestehender Hemmnisse und Abhängigkeiten
Der Lehrplanzusatz betrifft die 1. bis 8. Schulstufe und beinhaltet verbindliche Übungen zum Erlernen der Österreichischen Gebärdensprache. Das wöchentliche Stundenausmaß beträgt 1-2 Stunden. In den verbindlichen Übungen werden Sehverstehen, Gebärden, Mediales Sehverstehen, Mediales Gebärden und Linguistische Kompetenzen trainiert. Die Primarstufe orientiert sich an den Kompetenzstufen A1 und A2.
3. Wie ist der ÖGS-Lehrplan für die AHS aufgebaut?
Der ÖGS-Lehrplan für die AHS unterscheidet zwischen ÖGS I und ÖGS II und richtet sich sowohl an gehörlose und schwerhörige Kinder als auch an Hörende. Schüler:innen, die noch keine ÖGS-Kenntnisse mitbringen, können im Rahmen von ÖGS I die Österreichische Gebärdensprache:
• als Pflichtgegenstand Zweite Lebende Fremdsprache belegen oder
• statt Latein oder Griechisch als alternativer Pflichtgegenstand
• oder als Wahlpflichtgegenstand wählen.
Sie können im Fach ÖGS maturieren und erreichen ein Niveau von A2-B1.
Für gehörlose, schwerhörige und hörende Schüler:innen, die schon Gebärdensprache können, gibt es im Zug ÖGS II die Möglichkeit, ÖGS
• als Pflichtgegenstand „Zweite Lebende Fremdsprache“ zu wählen oder
• statt Latein oder Griechisch als alternativer Pflichtgegenstand
• oder als Wahlpflichtgegenstand.
Sie erreichen in der 8. Klasse ein Niveau von B1-B2 und können im Fach ÖGS natürlich auch maturieren.
4. Ab wann gelten die ÖGS-Lehrpläne?
Die Lehrpläne sollen noch in der laufenden Legislaturperiode verordnet werden. Der 2. Lehrplanzusatz im Förderbereich Hören und Kommunikation soll ab dem Schuljahr 2025 in Kraft treten, der ÖGS-Lehrplan für die AHS ab dem Schuljahr 2026. Das bedeutet: Das erste Mal unterrichtet wird ÖGS als zweite lebende Fremdsprache im Schuljahr 2026/27 für die 5. Klasse. Danach folgte die stufenweise Ausrollung. Das erste Mal zur Matura kommt ÖGS daher vier Jahre später, Termin 2030.
5. Gibt es genug Lehrpersonal für die ÖGS-Lehrpläne?
Als Lehrpersonen für ÖGS sollten nach Meinung der Gehörlosen Community vor allem native Signers (taube, gebärdensprachliche Personen) eingesetzt werden, da sie neben authentischer Sprachkompetenz
- eine offene Auseinandersetzung und Hinterfragung von Stereotypen und Klischees ermöglichen, mit denen gehörlose und schwerhörige Menschen behaftet sind;
- die Herausbildung einer kulturellen Identität vor allem bei gehörlosen und schwerhörigen Schüler:innen unterstützen, mitunter aber auch bei CODAs;
- als Vorbild für gehörlose und schwerhörige Schüler:innen wirken.
Damit gehörlose und schwerhörige Menschen als Lehrer:innen tätig werden können, müssen sie Zugang zur Ausbildung in pädagogischen Berufen erhalten! (Zur Zeit werden Aspirant:innen für pädagogische Berufe österreichweit Steine in den Weg gelegt, indem man sie entweder gar nicht in einen Ausbildungsturnus aufnimmt oder ihnen die Finanzierung einer dem Studium angemessene Begleitung durch Dolmetscher:innen versagt.)
Um also die Wirkung eines Lehrplans Österreichische Gebärdensprache in allen drei Punkten voll zu entfalten, müssen Bund und Länder entsprechende Rahmen-bedingungen schaffen, indem sie die Expertise der Gehörlosen Community strategisch und operativ einsetzen und Budgetmitten bereitstellen:
- für Aus- und Weiterbildung gehörloser und schwerhöriger Dozent:innen zur Ausbildung von hörenden, gehörlosen und schwerhörigen Lehrer:innen
- für Aus- und Weiterbildung gehörloser und schwerhöriger Lehrer:innen
- für Aus- und Weiterbildung von hörenden Lehrer:innen
- und für die Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien auf allen Bildungsebenen (für Dozent:innen, Lehrer:innen, Schüler:innen).
6. Wie positioniert sich der ÖGLB zu den ÖGS-Lehrplänen?
Die Lehrpläne stellen wichtige Meilensteine in der Verbesserung des Zugangs gehörloser und schwerhöriger Menschen zu Bildung dar. Der Lehrplan ÖGS I und II für die Sekundarstufe II der AHS wird besonders deshalb willkommen geheißen, weil er die ÖGS nicht als Sprache behinderter Personen darstellt, sondern als vollwertige visuell-gestischen Sprache neben Lautsprachen lehrt. Diese Gleichstellung ist ein lange vermisster Ausdruck von Respekt und Wertschätzung der Gehörlosen Community gegenüber. Das ÖGS-Angebot in der Oberstufe leistet zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Chancengleichheit gehörloser und schwerhöriger Schüler:innen in ihrer Bildung sowie zu ihrer weiteren beruflichen Entwicklung.
ABER: Der Lehrplanzusatz für den Förderschwerpunkt Hören/Kommunikation stellt keinen vollwertigen ÖGS-Lehrplan dar, wie wir ihn uns für die Primarstufen gewünscht hätten. Der Unterricht in ÖGS ist gemäß vorgelegtem Entwurf nur gehörlosen und schwerhörigen Kindern mit ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) vorbehalten – das erachten wir als nicht ausreichend. Der Lehrplanzusatz Förderschwerpunkt Hören/Kommunikation ist ein Instrument zur Behebung eines Defizits von Schüler:innen. Wir wünschen uns stattdessen, dass ÖGS bereits in der Volksschule und Sekundarstufe I als vollwertige visuell-gestische Sprache gelehrt wird und ein aufbauender Sprachunterricht von der 1. bis zur 12. Schulstufe stattfindet.
Wir würdigen die Anstrengungen für mehr Inklusion im Bildungswesen und empfinden die derzeitigen Entwürfe als wichtige Etappensiege. ABER: Wir geben nicht auf, für mehr Chancengleichheit im Bildungswesen zu kämpfen. Unser Ziel ist ein bilingualer/bimodaler Unterricht, in dem ÖGS sowie Lautsprache als Unterrichtssprachen gleichberechtigt neben- und miteinander genutzt werden können. Optimal wäre, die ÖGS als Unterrichtssprache in allen Schularten und -stufen zu etablieren.